Im Chelsea geht die Nacht zu Ende
Es gibt eine unausgesprochene Regel unter Feiernden, nach der jede Wiener Nacht im Chelsea enden muss. Wer den Fehler begeht, hier nicht erst deutlich nach Mitternacht zu erscheinen, sitzt oft allein vor der rauchenden Kellnerin. Doch wie kein anderes Lokal kann das Chelsea innerhalb von dreißig Minuten zwei Gänge raufschalten. Rom mag die ewige Stadt sein, doch das Chelsea ist das ewige Gürtellokal. Wenn die Schwelle des Vorglühens lang überschritten ist, doch der Absturz noch erfolgreich hinausgeschoben werden kann, schlägt seine Stunde. Heute haben wir alles richtig geplant, die Ankunftszeit und den Grad der Betrunkenheit. Meine Begleitung ist ein Student aus Amerika, er ist fassungslos über die Playlist des DJs, die ausschließlich aus Indie- und Britpop-Hits besteht, die in seiner Heimat nur mehr auf Oldie-Sendern zu hören sind. Ich beuge mich rüber und rufe ihm über die Lautstärke von Champagne Supernova zu, dass diese Songs in den Stein des Chelsea-Gemäuers gemeißelt wurden, vor Jahren, womöglich Jahrzehnten, und so lange ist auch der Mann hinter den Turntables schon derselbe.
Rom mag die ewige Stadt sein, doch das Chelsea ist das ewige Gürtellokal.
Stoisch steht er auf seiner Kanzel und wechselt Wochenende für Wochenende die immer gleichen CDs, mit Hymnen, die in Kalifornien oder Bristol geschrieben wurden, Städte, die er womöglich nie besucht hat, deren Rhythmen sich dennoch in die grauen Haare seines Bartes eingegraben haben. Alles bleibt hier gleich, und genau deshalb lässt sich sofort der Schalter umlegen. Jeder folgt einem unsichtbaren Drehbuch, geschrieben in tausenden Wiener Nächten: eine Runde Wieselburger bestellen; auf der Tanzfläche mithüpfen, auf der alle, wirklich alle Menschen schwer betrunken sind, ja sein müssen. Fällt der Promillebereich auch nur um wenige Bruchteile, würde die Selbstreflexion zuschlagen, man würde anfangen, darüber nachzudenken, dass man eigentlich zu alt, zu jung, zu hip oder zu sehr Österreicher ist, um für einmal alle Hemmungen abzulegen, zu feiern und sich gehen zu lassen. Denn das Wiener Nachtleben ist eine launige Diva, meistens zu vornehm, um sich wirklich gehen zu lassen, aber wenn sie sich doch zu einem Tänzchen auffordern lässt, dann brennt es lichterloh.
Denn das Wiener Nachtleben ist eine launige Diva, meistens zu vornehm, um sich wirklich gehen zu lassen, aber wenn sie sich doch zu einem Tänzchen auffordern lässt, dann brennt es lichterloh.
Ein Mädchen lächelt mich an und fragt mich, ob ich alle Liedtexte auswendig kenne, ich muss minutenlang lautstark mitgegrölt haben. Ohne eine Antwort abzuwarten, stellt sie mir ihre Freundin vor, die zu schüchtern war, mich anzusprechen. Weil ich sie kaum verstehe, gehen wir hinaus vor die Tür, wo sie sich eine Zigarette anzündet und mir anschließend die Packung hinhält. Kurz zögere ich, doch dann sehe ich das erste Licht des Tages über dem Gürtel aufgehen und die eiskalte Nacht vertreiben. Mit einem Ruck ziehe ich eine Zigarette heraus, lasse mir Feuer geben und warte mit ihr auf den Sonnenaufgang.
Eine von 17 Geschichten aus dem neuen Buch "Der Wiener Alltagspoet fährt U6"
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