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Santorin – Am Rande der Caldera

Vor mehr als dreitausend Jahren verdunkelte sich der Himmel über der Ägäis hinter einem undurchdringlichen Vorhang dicker Wolken. Wellen türmten hoch wie Wolkenkratzer, um anschließend mit der Wucht von dreihundert Stundenkilometern auf das pechschwarz gefärbte Meer einzustürzen. Es heißt, dass durch den Ausbruch der Vulkaninsel Thera nicht nur ein Großteil der Fläche Santorins in den Fluten versank, sodass seither nur mehr die Kreisrunde „Caldera“ an die Oberfläche ragt, sondern auch gleich die minoische und ägyptische Kultur mit in die Fluten gerissen wurde.



Heute ist es keine Naturgewalt mehr, die Schrecken und Zerstörung bringt. Feuer und Gestein wurden von den im Minutentakt landenden Flugzeugen abgelöst, die auf dem kargen, gerade einmal fünfzehn Quadratmeter großen Felsbrocken mitten auf der ägäischen See aufschlagen. Tödlicher als jede noch so heiße Lava strömen die Menschenmassen aus den Inneren der metallenen Gefährte auf den Gipfel der Insel, der das letzte Hindernis zwischen ihnen und dem legendären Santoriner Sonnenuntergang darstellt. In Griechenland versinken die Himmelskörper zwar an jeder Ecke des Landes in malerischer Pracht, doch irgendjemand hat diesen hier als den schönsten seiner Art gekürt, weshalb sich nun allabendlich eine Völkerwanderung durch die engen Gässchen von Oia schiebt.



Immer wieder gerät die Prozession ins Stocken, da an den wenigen vorhandenen Aussichtspunkten für Selfies posiert wird. Es bedarf einiges an Geschick seitens der Fotografen, um ihre Modelle als einsam und unbekümmert vor dem Abgrund des tief blauen Meeres sinnierend zu inszenieren, während die Kolonne hinter ihnen ungeduldig mit den Handykameras scharrt. An diesem Abend gibt es einige enttäuschte Gesichter, denn eine dicke Wolkendecke versteckt die Sonne und trübt die Erwartungen, welche die Besucher genährt aus schwedischen, japanischen und kanadischen Reiseprospekten mitgebracht hatten. Der Sonne jedenfalls ist es egal, ob sie im Meer oder unter den Wolken untergeht, ihr Schicksal ist so oder so allabendlich unausweichlich.



Nach Einbruch der Nacht setzt die Flucht aus den Bergdörfern Oia und Fira ein, wenn Hunderte, ja im Sommer sogar Tausende, gleichzeitig vom Berg hinunter in ihre Hotels wollen. Auf der kurvigen Gebirgsstraße hupen die rostigen Autos der Einheimischen sinnlos gegen die etwas neuer aussehenden Mietwagen der Besucher an. Die riesigen Linienbusse sind bereits zur Vorsaison überfüllt, obwohl sie in mitteleuropäischer Pünktlichkeit jede halbe Stunde abfahren. Es herrscht hier kein falscher Geiz vor, die Gastgeber hätten schon längst weitere Fahrzeuge bestellt, um den jedes Jahr größer werdenden Massen Herr zu werden, doch mehr dieser tonnenschweren Reisegefährte passen nicht auf die zerfurchte Insel. Das Fassungsvermögen ist längst gesprengt, die Griechen haben aufgegeben, Ordnung in das Chaos zu bringen, so als würden sie sagen, mit uns hat das alles nichts mehr zu tun.



Irgendwann passiert, was passieren muss: Einer der Reisebusse schert ruckartig links aus und rammt eine riesige Beule in das winzige Auto neben sich. Der Busfahrer schimpft auf den Lenker des Wagens ein, obwohl er selbst es war, der auf der engen Fahrbahn einen Augenblick lang unachtsam war. Aufgeregt strömen die Touristen aus dem Bus, um Fotos vom geschrotteten Wagen zu machen, der Unfall bringt Abwechslung zwischen den immer gleichen Klippenbildern. Dabei wäre es dieses eine Mal tatsächlich gerechtfertigt, die Linsen ihrer Handys auf sich selbst zu richten, auf sie, welche die wahre Zerstörung anrichten: Durch den Massentourismus kommt die Insel mit den Müllbergen nicht mehr zurecht, der Abfall wird nun in die ehemaligen Bimssteinbrüche gekippt, wodurch archäologische Spuren und fossile Pflanzen für immer zerstört wurden. Die Trinkwasserversorgung ist schon vor Jahren zusammengebrochen, als das Süßwasserreservoir durch die immer intensiver werdende Anzapfung beschädigt und mit Salzwasser vermischt wurde. Im Jahr 2007 versank eines der vielen die Insel ansteuernden Kreuzfahrtschiffe im Meer, es liegt bis heute ungeborgen dort.



Unten an der Küste angekommen ist es etwas ruhiger, Familien schieben ihre Kinderwägen an den endlos nebeneinander aufgereihten Lokalen der Uferpromenade entlang. Am von der Vulkanasche für alle Ewigkeit schwarz eingefärbten Strand von Kamera wehen die Schirme über den Strandliegen. Im Zentrum der Ansiedlung steht ein Irish Pub, in dem Fußballspiele der holländischen Liga übertragen werden, während die Briten Pints und Cheeseburger bestellen.



Santorin ist ein internationaler Erfolg, hier treffen Welten aufeinander: Die Amerikaner kommentieren lautstark, wie viel Geschichte und Kultur auf der Straße liegt, obwohl es eigentlich nur Häuser und Felsen zu sehen gibt. Die Asiaten geben sich aufgeregt angesichts der neuen Welt, sie haben schließlich das Reisen gerade erst entdeckt, und wenn nur ein paar Prozent mehr Inder in den nächsten Jahrzehnten in die Billigflieger gen Westen steigen, dann müssen die Griechen ein zweites Santorin aus dem Meer stampfen. Die Europäer dagegen stiefeln gelangweilt an den Souvenirshops vorbei, die sie schon in Mallorca leergeräumt haben, man merkt den Bewohnern der alten Welt eine tiefe Müdigkeit an, die ihrer bereits zu lang andauernden Existenz geschuldet ist.



Was sich nicht leugnen lässt: schön ist er wirklich, der Sonnenuntergang über Santorin. Doch das ist er an unzähligen anderen Orten des Landes, ja der ganzen Welt, auch, und dort hat man ihn zumeist für sich allein. Doch vielleicht ist es so, dass wir die wahre Schönheit erst dann erkennen und wertschätzen können, wenn wir uns mit Hunderten anderen um sie streiten müssen.



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