Wo die wilden Pferde leben
Tierarzt Doktor Ovidiu Roschu beugt sich über die Stute, die vor ihm auf dem Boden der endlosen Weite des rumänischen Donaudeltas liegt. Hier mitten im Nirgendwo, fernab von Straßen, Geschäften und der europäischen Zivilisation führt die Tierschutzorganisation VIER PFOTEN ein Geburtenkontrollprogramm für die Wildpferde des Donaudeltas durch. Am Horizont können wir die Bäume des über 2800 Hektar großen Letea-Waldes erspähen, einem der letzten, vom Menschen fast unberührten Naturparadiese Europas.
Die Anreise von Wien aus dauert genauso lange wie ein Flug an die amerikanische Westküste: Nach der Landung in Bukarest kämpfen wir uns zunächst über den verstopften Autobahnring, in dem die Fahrzeuge im Kolonnenverkehr um die Hauptstadt kreisen. Anschließend geht es vier Stunden lang durch die flache Landschaft Südrumäniens, über leere Landstraßen, an denen junge Mädchen den Vorbeifahrenden in Plastiksäcke verpackte Nüsse entgegenstrecken.
Endlich angelangt in der Hafenstadt Tulcea trennen uns nur noch wenige Kilometer bis zu unserem Ziel, doch jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, stellen diese ein letztes, unüberwindliches Hindernis dar. Wir müssen bis zum Sonnenaufgang warten, erst dann dürfen die Boote die eineinhalbstündige Überfahrt nach Letea antreten. Obwohl die Fischer problemlos auch ohne Tageslicht navigieren könnten, drohen ihnen horrende Strafen, falls sie sich in der Nacht auf den Weg machen.
Am nächsten Morgen besteigen wir ein kleines Motorboot, das unter der Last unseres Gepäcks bedrohlich zu schaukeln beginnt. Während die Ufer des Donaudelta links und rechts an uns vorbeiziehen, rückt die Zivilisation mit jeder Minute ein Stück weiter weg. Als wir in Letea anlegen und den ersten Schritt auf den Anlegesteg des Dorfes wagen haben wir bereits vergessen, dass wir uns noch auf dieser Welt befinden. Hier gibt es keine Hotels, keine Supermärkte, keine Geschäfte, ja nicht einmal Straßen, sondern nur die endlose Weite Rumäniens und der Ukraine, die einen bloßen Steinwurf weit entfernt liegt. Dieser Teil des Landes ist nicht an das öffentliche Straßennetz angeschlossen, es oblag den Einheimischen in jahrzehntelanger Beständigkeit mit ihren gegen den Rost ankämpfenden Autos Fahrspuren in den Staub der kargen, zwischen der Donau und dem schwarzen Meer eingegrenzten Landschaft zu graben.
Auf den ersten Blick erscheint es völlig widersinnig, hier mitten im Nirgendwo ein Geburtenkontrollprogramm für Wildpferde durchzuführen. Doch die Idylle trügt, denn die Existenz der Tiere wäre im Jahr 2011 fast beendet worden. Der Letea Wald ist ein Unesco Biosphärenschutzgebiet, was die Pferde jedoch wenig beeindruckt: sie nutzen die streng geschützte Flora und Fauna des Waldes als Futterquelle und beschädigen dadurch die wertvollste touristische Einnahmequelle der Region. Auf Anweisung der Politik begannen die Einheimischen schließlich, die Pferde zusammenzutreiben und für den Transport zum Schlachthof bereit zu machen. Im letzten Moment verhinderte VIER PFOTEN ihre Auslöschung, indem man anbot, die gefangenen Pferde zu übernehmen. Als weitere Maßnahme wurde ein Geburtenkontrollprogramm in der Region gestartet, um die Pferdepopulation im Zaum zuhalten. Außerdem wurde mit EU Geldern ein Zaun um den Letea Wald gespannt – jedoch vergaß man, die sich zu diesem Zeitpunkt im Wald aufhaltenden Pferde vorher rauszuholen.
Wir verbringen die Nacht bei Toni, einem geschäftstüchtigen Einheimischen, der als einer der ersten im Dorf das touristische Potential seiner Heimat erkannt hat und in seinem Bauernhaus Gästezimmer anbietet. Seit diesem Jahr betreibt er zusätzlich einen kleinen Laden, in dem Gemüse aus der Region, Wasser und vom Festland hergebrachte Kartoffelchips verkauft werden. Abends sitzen die Einheimischen auf dem Holztisch vor dem Geschäft und starren auf die Besucher aus der fremden Welt. In der Unterkunft gibt es zwar Strom und gelegentlich warmes Wasser, aber kein Internet. Auf einem brandneuen Flat-Screen Bilder laufen beim Frühstück Bilder der Protestzüge in Hongkong, während wir den von Tonis Frau zubereiteten frittierten Fisch verspeisen.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf der Ladefläche eines schweren Trucks schließlich auf in Richtung der German Fields, die den Letea-Wald umgeben und auf denen sich die Pferde bevorzugt aufhalten. Normalerweise werden auf Fahrzeugen wie diesen Touristen durch die Gegend gekarrt, heute ist unser Team um den in Bukarest lebenden Tierarzt Ovidiu Roschu hier, um die wilden Pferde von Letea zu sterilisieren. Unterstützt wird er durch Helga Kausel, die in ihrem Beruf als Tierärztin um die ganze Welt reist. „Pferde sind die einzigen Tiere, die wir behandeln, die nicht mehr leben würden, wenn sie nicht domestiziert worden wären“, erklärt sie mit dem Verweis auf die komplizierte Physionomie von Pferden. Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass auf den Touren von Doktor Roschu verletzte Tiere behandelt werden müssen. Wer in der Wildnis unterwegs ist, weiß nie, was einen erwartet.
Heute dauert es nicht lange, bis wir die erste Herde finden. Für die Pferde ist es ohnehin unmöglich sich zu verstecken, da es so weit das Auge reicht weder Hügel noch Bäume gibt, sondern nur dünnes Gestrüpp. Vor 30.000 Jahren trug der Boden über den wir heute fahren noch das Gewicht des Schwarzen Meeres auf sich, durch das Salzwasser wurde die Erde für die nächsten Jahrtausende unfruchtbar gemacht. Die wenigen Pflanzen haben das Aussehen violetter und rötlicher Korallen, die man hier ganz ohne Tauchschein bewundern kann, da sie offen unter der brennenden Spätsommersonne des Deltas liegen.
Doktor Roschu hat mittlerweile sein Betäubungsgewehr geladen. Er legt an, zielt und trifft die Stute, die erschrocken davonläuft, nur um wenige Minuten später zu Boden zu gehen. Anschließend wird das Kontrazeptivum verabreicht, welches sie für das nächste Jahr unfruchtbar werden lässt, ein Opfer, das gebracht werden muss, um das Überleben ihrer Spezies zu sichern. Die Prozedur dauert fast eine Stunde, anschließend wird das Tier markiert und in einer Excel Tabelle eingetragen, bis es weitergeht. So vergehen Stunden, in denen in aufwendiger Prozedur ein Tier nach dem anderen behandelt wird. Die immer gleiche Arbeit in der sich nie ändernden Landschaft der German Fields lässt einen jedes Zeitgefühl vergessen. Zu Mittag wird kurz Pause gemacht und das von Tonis Frau vorgekochte Mittagessen, gebackener Fisch, verspeist. „Jetzt wo es warm ist haben wir kein Problem“, erklärt Doktor Roschu. „Im Winter, wenn der Wind ungebremst durch die Weite des Landes pfeift, ist es schlimm. Wir können dann oft überhaupt nur anreisen, weil von Sulina aus große Eisbrecher hierher fahren, die durch die gefrorene Donau durchkommen.“
Irgendwann wird es aber doch Abend, und unsere rumänischen Kollegen wollen uns noch etwas Besonderes zum Abschluss zeigen. Wir klettern eine sandige, muschelbedeckte Düne hoch, die geradewegs von der Küste des schwarzen Meeres zu stammen scheint. Irgendwann, in weiteren 30.000 Jahren vielleicht, wird das Salz aus dem Boden der German Fields gewaschen sein und die ganze Ebene, endlich befreit von der Last der Unfruchtbarkeit, erblühen. Zurück in Tonis Unterkunft wird zum Abendessen Fisch serviert. Der rumänische Projektleiter hält nach dem zweiten Tuica, einem nach Spiritus riechenden rumänischen Schnaps, einen halbstündigen Monolog über die Korruptheit der Regierung und die Herzlosigkeit des modernen Fußballs. Eigentlich war eine Feier in der örtlichen „Bar“ geplant, doch die Band hat abgesagt, vielleicht war ihnen die Überfahrt ans Ende der Welt zu beschwerlich.
Am nächsten Tag fahren wir zum letzten Mal über die staubige Hauptstraße Leteas, unter den schweigenden Blicken der Einheimischen, denen die heißen Sommer, aber vor allem die langen Winter, in denen es hier nichts gibt als unendliche Kälte, die Mundwinkel nach unten ragend eingefroren haben. Noch einmal geht es vorbei an den schilfbedeckten Häusern, bei denen jedes zweite eine vergessene Ruine zu sein scheint. Wollte man all das hier zerstören, würde man ein Yogazentrum für gestresste Großstädter eröffnen. Auf der Bootsfahrt zurück wird nicht viel gesprochen, während die Datenverbindungen unserer Handys langsam wieder anspringen und wir die ersten echten Häuser am Hafen von Tulcea erkennen, einer Kleinstadt, die uns nach drei Tagen in Letea vorkommt wie das Zentrum der Welt.
Ich durfte für VIER PFOTEN einen Podcast über die Reise nach Letea moderieren, den ihr euch hier anhören könnt.
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